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Behindert ist man nicht behindert wird man Teil 2

Aktualisiert: 25. Sept. 2021

Behindert ist man nicht, behindert wird man


Im Dezember 2016 verabschiedete der Bundestag das Bundesteilhabegesetz (BTHG). In mehreren Schritten wird bis 2023 das Schwerbehindertenrecht neu geregelt. Seit Januar 2018 gilt eine neue Definition des Begriffs „Behinderung“. Danach ist nicht entscheidend, ob und inwieweit der Mensch „funktioniert“. Behindert ist ein Mensch vielmehr, wenn ihn gesellschaftliche Rahmenbedingungen behindern. Behinderung ist keine menschliche Eigenschaft. Es sind Barrieren, Vorschriften und Vorurteile, die Menschen behindern. Copyright by Nataliya/Adobe stock 27.09.2019Das Schwerbehindertenrecht betrifft einen wesentlichen Teil der Arbeit der DGB Rechtsschutz GmbH. Nicht nur im Sozialrecht, in dem es vor allem darum geht, Bescheide der Versorgungsämter zu überprüfen und gegebenenfalls gegen sie vorzugehen. Auch im Arbeits- und Verwaltungsrecht spielt die Frage häufig eine erhebliche Rolle, ob und in welchem Umfang ein*e Mandant*in behindert ist. Das betrifft etwa Kündigungsschutzverfahren oder Prozesse, in denen es um Diskriminierung geht. Behinderung galt lange Zeit als medizinische Tatsache. Irgendetwas funktioniert bei einem Menschen „nicht richtig“. Weil ihm etwa ein Bein fehlt, kann er nicht an allem teilhaben, was ein „normaler“ Mensch so treibt. Das Bundessozialgericht hat dafür den Begriff „Funktionsbeeinträchtigung“ geprägt. Wegen dieser Beeinträchtigung ist der Betroffene gehindert, vollständig am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Er benötigt deshalb Hilfen, durch die er in die Gesellschaft integriert werden kann. Nicht der Mensch ist behindert, die gesellschaftliche Wirklichkeit behindert ihn Diese Sicht der Dinge wurde seit langem insbesondere von Betroffenen stark kritisiert. Worin liegt eigentlich die Behinderung, wenn ich als Rollstuhlfahrer auf eine Treppe stoße und deshalb meinen Weg nicht fortsetzen kann? Bin ich die Behinderung oder die Treppe? Was behindert mich, wenn Arbeitsplätze nicht so beschaffen sind, dass ich als Rollstuhlfahrer dort arbeiten kann? Meine „Funktionsbeeinträchtigung“ oder die Tatsache, dass der Arbeitgeber den Arbeitsplatz nicht vernünftig ausstattet und auch für Rollstuhlfahrer zugänglich macht? An diesen Beispielen wird ein Problem deutlich. Behinderung ist keine Eigenschaft eines Menschen, sondern hat mit Ausgrenzung zu tun. Das betrifft freilich nicht nur Rollstuhlfahrer, sondern alle Menschen, die nicht einer gewissen Norm entsprechen. Gesellschaftliche Standards haben einen Menschen im Blick, der mit Geist, Psyche und Körper in einer Weise funktioniert, die als „normal“ gilt. Wer das nicht kann, gehört erst einmal nicht zur Gesellschaft dazu. Er bedarf der Hilfe, damit er in diese Gesellschaft integriert werden kann. Inklusion statt Integration In den letzten Jahren hat indessen ein Umdenken stattgefunden. Behinderung ist weder eine medizinische Tatsache noch eine Eigenschaft vieler Menschen. Behinderung ist vielmehr etwas, was damit zu tun hat, wie Menschen in der Gesellschaft zusammenwirken. Dabei geht es nicht nur um Barrieren wie Treppen oder zu hohe Bordsteine. Es geht insbesondere auch um den Umgang miteinander. Um Vorurteile und überholte Vorschriften. Warum darf etwa ein Mensch mit einem nicht ansteckenden starken Hautausschlag nicht in ein öffentliches Schwimmbad? Ist sein Ausschlag das Problem, oder die - mögliche - Intoleranz der anderen? Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat bereits 2002 den Begriff der Behinderung neu bestimmt. Behindert ist gemäß der internationalen Klassifikation (ICF) nicht mehr, wer körperlich oder psychisch eingeschränkt ist, sondern wer durch die Einschränkung im sozialen Kontext behindert wird. 2006 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) die Behindertenrechtskonvention (BRK). Danach sind „behinderte Menschen diejenigen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“. Seit 2018 gilt auch in Deutschland der internationale Behinderungsbegriff Mit dem BTHG kommt die Bundesrepublik Deutschland der Pflicht nach, das nationale Schwerbehindertenrecht an die BRK anzupassen. Seit Januar 2018 enthält das Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) eine entsprechende Definition von Behinderung. Die Sichtweise hat sich also völlig geändert. Es ist nicht mehr der behinderte Mensch, der in die Gesellschaft integriert werden muss. Die Gesellschaft besteht vielmehr auch aus Menschen, die nicht sehen können, denen Gliedmaße fehlen oder die psychisch beeinträchtigt sind. Aus Integration wird Inklusion. Nicht der Mensch funktioniert nicht richtig und muss in die Gesellschaft eingegliedert werden. Die Gesellschaft darf nicht Menschen ausschließen, weil sie nicht einer Norm entsprechen, die die Gesellschaft selbst bestimmt. Die Gesellschaft braucht die Talente vieler Menschen, die lange Zeit ausgegrenzt waren Freilich geht es nicht darum, dass jeder alles machen kann. Ein Rollstuhlfahrer wird gar nicht auf die Idee kommen, etwa als Dachdecker zu arbeiten. Aber das werden viele andere Menschen auch nicht, die gar nicht das Talent dazu haben. Es geht aber um Barrieren, die gar nichts mit Talent und Neigung zu tun haben. Warum kann zum Beispiel eine Frau nicht Nachrichtensendungen moderieren, weil ihr die Nase fehlt oder sie Pickel im Gesicht hat? Warum soll jemand, der stottert nicht Lehrer werden können? Warum eine Blinde nicht Richterin? Die Gesellschaft benötigt die unterschiedlichen Talente vieler Menschen. Inklusion ist deshalb keine Fürsorge, kein Almosen für Menschen mit Behinderung. Inklusion bedeutet, Menschen mit vielen Talenten und Fähigkeiten nicht mehr auszugrenzen, nur weil sie einer Norm nicht entsprechen, die die Gesellschaft selbst bestimmt. Durch Gesetze und Vorschriften. Aber auch durch Vorurteile. Was heißt das jetzt für die Praxis? Vieles von dem, was jetzt durch internationale Normen, europäischen Vorschriften und nationalen Gesetzen vorgeschrieben ist, hat sich auch in den letzten Jahrzehnten bereits nach und nach durchgesetzt. Das ist das Verdienst vieler Behindertenorganisationen, auch der Behindertenkommissionen in den Gewerkschaften. Aber auch die Rechtsprechung der Sozialgerichte hat einiges vorangebracht. So hat das Bundessozialgericht mehrfach entschieden, dass der Grad der Behinderung (GdB) sich nicht danach bemisst, in welchem Umfang die körperliche, geistige oder seelische Funktion eines Menschen beeinträchtigt ist. Entscheidend sei vielmehr, inwieweit seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt sei. Allerdings knüpft das BSG immer noch an medizinische Befunde an, aus denen sich Funktionsbeeinträchtigungen ergeben sollen. Das greift indessen zu kurz. Zwar bestimmt auch das Gesetz, dass eine Beeinträchtigung im Sinne des Schwerbehindertenrechts nur vorliegt, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Von den körperlichen Funktionen und deren Defizite spricht das Gesetz aber nicht. Das Versorgungsamt stellt eine Behinderung und keine Krankheiten fest Nach dem SGB IX stellt das Versorgungsamt (VA) fest, ob bei ein Mensch behindert ist und welchen Grad der Behinderung er hat. Das VA stellt also nur fest, es legt nicht fest oder vergibt auch keinen Grad der Behinderung. Behindert ist ein Mensch also auch unabhängig davon, ob das VA überhaupt irgendetwas entschieden hat. Die Jurist*innen bezeichnen einen Bescheid des VA deshalb als deklaratorisch. Er dient im Grunde nur dazu, die Behinderung und deren Grad nachzuweisen. Chronische Krankheiten, die Grund für die Behinderung sind, stellt das VA gar nicht fest. Diese finden sich nur in der Begründung des Bescheides. Der Betroffene kann sich deshalb später auch nicht darauf berufen, dass das VA bestimmte Krankheiten festgestellt habe. Es gibt auch nach dem Gesetz nicht mehrere Behinderungen, weil die Krankheiten selbst eben nicht die Behinderung sind. Das VA stellt vielmehr lediglich fest, dass aufgrund einer oder mehrerer Erkrankungen ein Mensch in seiner Teilhabe beeinträchtigt ist und in welchem Grade. Vereinfacht ausgedrückt lautet ein typischer Bescheid eines VA: »Der Antragsteller ist behinderter Mensch. Der Grad der Behinderung beträgt 30.« Die bisherige Verwaltungsvorschrift hilft wenig Das VA stellt nicht einmal die „Schwerbehinderteneigenschaft“ fest. Das Gesetz bestimmt vielmehr, dass ein Mensch schwerbehindert ist, wenn sein GdB mindestens 50 beträgt. Wenn das VA einen GdB von mindestens 50 festgestellt hat, muss es auch noch prüfen, ob gewisse Merkzeichen (G, aG, H, RF u.s.w.) in den Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Für das VA gibt es diverse Vorschriften, wie es die Behinderung und deren Grad feststellen muss. Ganz wichtig ist insoweit die Versorgungsmedizinverordnung (VMedVO). Die ist allerdings gar nicht in erster Linie für das Schwerbehindertenrecht erlassen worden. Sie bezeichnet vielmehr vor allem den Grad der Schädigung etwa bei Opfern von Straftaten. Eine Behinderung liegt aber nicht nur bei Schädigungen vor. Es spielt überhaupt keine Rolle, warum jemand in seiner körperlichen, seelischen oder geistigen Fähigkeit beeinträchtigt ist. Entscheidend ist allein, ob daraus eine Beeinträchtigung am Leben in der Gesellschaft folgt. Die VMedVO ist aber noch aus einem anderen Grund nur bedingt dafür tauglich, den GdB festzustellen. In einer Anlage stellt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) sogenannte „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ auf. Hier werden für viele Krankheiten und Befunde GdB-Werte angegeben, die auf Erfahrungen in der Medizin basieren. Dazu wird beim BMAS ein Beirat gebildet, in dem ausschließlich Ärzt*innen vertreten sind. Nicht nur medizinisches Erfahrungswissen ist wichtig, um den GdB einzuschätzen Jetzt ist medizinisches Erfahrungswissen sicherlich für die Feststellung eines Grades der Behinderung wichtig. Es ist aber mehr als problematisch, wenn ausschließlich Ärzte einschätzen, inwieweit sich körperliche, seelische oder geistige Beeinträchtigungen auf das Leben in der Gesellschaft auswirken. Dazu bedarf es eigentlich eines Kreises von Experten aus unterschiedliche Disziplinen. Sozialarbeiter etwa und Sozialwissenschaftler, aber auch Menschen, die in Behinderteneinrichtungen arbeiten und Vertrauensleute schwerbehinderter Menschen aus den Betrieben. Auch die Sozialgerichte überprüfen Bescheide der Versorgungsämter hauptsächlich anhand der VMedVO. Das müssen sie auch machen, weil es ihre Aufgabe nun einmal ist, zu kontrollieren, ob die Versorgungsämter Recht und Gesetz richtig anwenden. Gefordert sind hier in erster Linie Gesetzgeber und Regierung, rechtliche Grundlagen dafür zu schaffen, das das sozialpolitische Ziel auch erreicht wird, die Gesellschaft so zu gestalten, dass alle bei uns lebenden Menschen als ein Teil dieser Gesellschaft gelten. Das Ziel: keine Barrieren mehr für niemanden Und dazu gehört zunächst einmal, dass festgestellt wird, wer aufgrund einer Beeinträchtigung an der vollständigen Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in welchem Umfang gehindert wird. Das ist wichtig, weil daraus folgt, inwieweit Betroffenen Nachteilsausgleiche gewährt werden, damit Barrieren möglichst verschwinden. Ob und inwieweit Barrieren vorhanden sind, können aber nicht allein Ärzte feststellen. Das weitergehende Ziel muss aber sein, dass es von vorneherein überhaupt keine Barrieren mehr gibt. Weder körperlich noch in Form von Rechtsvorschriften oder Vorurteilen. Eine Gesellschaft, die berücksichtigt, dass es einen „Normmenschen“ nicht gibt. Jetzt mag man einwenden, dass sei utopisch. Ziele bedeuten aber ja nicht notwendigerweise, dass genau vorherzusehen ist, wann und inwieweit sie zu erreichen sind. Ziele geben den Weg vor und bestimmen unser Handeln. Zur Vertiefung:

Autor: Dietmar Christians Herzlichen Dank für Ihre Anfrage. Selbstverständlich dürfen Sie den Artikel auf Ihrer Seite veröffentlichen, wenn Sie die HP der DGB Rechtsschutz GmbH als Quelle angeben.

Mit freundlichen Grüßen

Dietmar Christians

Assessor jur.

 
 
 

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